Verschiedene Daten aus dem In- und Ausland legen nahe, dass die zunehmenden Absenzen bei der Arbeit vor allem auch durch höhere psychische Belastungen und Erkrankungen verursacht werden. Die Ursachen dafür sind häufig multifaktoriell, wobei die Erwerbsarbeit eine davon sein kann. Aufgrund dieser neuen gesundheitlichen Herausforderungen ist der bestehende institutionelle Rahmen zunehmend überfordert. Es gibt aber Handlungsoptionen.
Im letzten Blog-Beitrag habe ich gezeigt, dass ein sehr starker Zusammenhang zwischen gesundheitsbedingten Absenzen und körperlichen und psychischen Risiken bei der Arbeit besteht. Je höher diese Risiken sind, desto höher sind auch die Absenzen von Arbeitnehmenden. Schwieriger zu erklären ist hingegen der Anstieg der gesundheitsbedingten Absenzen in den letzten zehn Jahren. Dieser liegt bei rund 30 Prozent und ist folglich einschneidend. Da entsprechende Daten für die Schweiz fehlen, ist ein Blick in die Daten aus Deutschland und Österreich interessant. Auch in unseren beiden deutschsprachigen Nachbarländern zeigt sich ein Anstieg der gesundheitsbedingten Absenzen. Dabei werden auch die Ursachen für die Krankheitsausfälle erhoben. In Österreich zeigt sich ein klares Bild: Der Anstieg der krankheits- und unfallbedingten Fehlzeiten erklärt sich aus einer Zunahme bei den Atemwegserkrankungen und den «psychischen und Verhaltensstörungen».
Österreich: Krankheits- und unfallbedingte Fehlzeiten – Veränderung Anteile 2015 zu 2023
Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung (WiFo), Juli 2024, Veränderung der Anteile in Prozent
Ein sehr ähnliches Bild zeigt sich in Deutschland. Auch hier erklärt sich die Zunahme in erster Linie durch Atemwegserkrankungen und psychische Erkrankungen. Zudem zeigt sich ein etwas weniger starker Anstieg bei den Muskel- und Skeletterkrankungen.
Deutschland: Krankheitsbedingte Fehlzeiten – Veränderung 2015 zu 2023
Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung (WiFo), Juli 2024, Veränderung in Prozent
Die Vermutung liegt nahe, dass das Bild in der Schweiz nicht komplett anders sein dürfte. Die Faktoren, die den Anstieg der gesundheitsbedingten Absenzen erklären, sind vermutlich weitgehend deckungsgleich. Die Zunahme der gesundheitsbedingten Absenzen würde sich somit einerseits hauptsächlich durch Covid und andererseits durch die Zunahme psychischer Belastungen erklären. Allerdings ist eine Klärung anhand der Schweizer Daten schwierig. Nachfolgend wage ich trotzdem einen Versuch.
In der untenstehenden Grafik wird die Zunahme der Absenzen zwischen 2017 und 2022 auf der einen Seite dargestellt. Auf der anderen Seite werden zwei Indikatoren aus dem schweizerischen Gesundheitsobservatorium verwendet, die Zunahme der psychischen Belastung und die Zunahme des Anteils der Arbeitnehmenden mit einer geringen Vitalität in den letzten vier Wochen. Mit diesen beiden Indikatoren können die Bereiche Erschöpfung, Müdigkeit und Niedergeschlagenheit abgedeckt werden.
Aus der Grafik wird ersichtlich, dass ein relativ klarer Zusammenhang zwischen der Zunahme der gesundheitsbedingten Absenzen und den psychischen Belastungen bzw. dem Rückgang der Vitalität besteht, aber nur, wenn zwei Berufsgruppen ausgenommen werden, die Dienstleistungsberufe und der Detailhandel, sowie die Handwerksberufe. Unter der Annahme, dass diese beiden Berufsgruppen am stärksten den Ansteckungsrisiken mit Covid ausgesetzt waren, wäre dies eine plausible Erklärung für die Zunahme, welche mit den Daten aus den Nachbarsländern konform wäre. Aufgrund der schlechten Datenlage in der Schweiz handelt es sich aber lediglich um eine Spur.
Veränderung der gesundheitsbedingten Absenzen und der psychischen Belastung/Rückgang der Vitalität 2017 zu 2022
Bundesamt für Statistik Absenzen), psychische Gesundheit/Vitalität (Gesundheitsobservatorium), ohne Handwerksberufe, Dienstleistungsberufe und Verkäufer
Während die Ansteckungsrisiken durch Covid oder die Auswirkungen einer Ansteckung in den nächsten Jahren zunehmend rückläufig sein dürften, gibt es bei den psychischen Belastungen weniger Argumente für eine rückläufige Tendenz. Vielmehr dürften sie weiter an Bedeutung gewinnen. Aus einer Arbeitnehmendenperspektive stellen sich dadurch Fragen nach den Ursachen und dem Umgang damit.
- Ursachen: Welche Rolle spielt die Erwerbsarbeit bei der Zunahme psychischer Erkrankungen?
- Umgang: Welche Massnahmen braucht es? Welchen Umgang mit psychischen Erkrankungen braucht es im Betrieb, unabhängig von den Ursachen? Wer soll Massnahmen ergreifen und durchsetzen? Ist der institutionelle Rahmen dafür noch der richtige?
Ursachen: arbeitsbedingter Stress und Erschöpfung spielen eine Rolle
Es wäre falsch, den Anstieg psychischer Belastungen und Erkrankungen ausschliesslich auf Entwicklungen in der Arbeitswelt zurückzuführen. Arbeit kann zwar krank machen, sie kann die Gesundheit aber auch verbessern.
Verschiedene Erhebungen, darunter der Barometer Gute Arbeit, mit welchem Travail.Suisse zusammen mit der Berner Fachhochschule seit zehn Jahren die Entwicklung der Arbeitsbedingungen mittels einer repräsentativen Befragung erhebt, zeigen nun aber, dass die stressbedingten Belastungen in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben. Es zeigt sich auch als Folge davon eine Zunahme von erschöpften Arbeitnehmenden. Mehr als jede:r dritte Arbeitnehmende gibt an, oft oder häufig zu erschöpft zu sein, um sich nach der Arbeit noch um private oder familiäre Angelegenheiten zu kümmern. Der Anteil der Arbeitnehmenden, die angeben, von einem länger anhaltenden Zustand totaler Erschöpfung betroffen gewesen zu sein («Burnout») hat in den letzten Jahren ebenfalls deutlich zugenommen. Als Folge davon bezeichnet eine grosse Mehrheit der Arbeitnehmenden inzwischen Übermüdung durch Stress und Termindruck in allen Branchen als bedeutendstes Gesundheitsrisiko. Die Arbeit spielt somit bei den veränderten Gesundheitsrisiken offensichtlich eine Rolle. Dabei zeigt sich ein deutlicher Wandel der Gesundheitsrisiken: Während schwere Unfälle und körperliche Gesundheitsrisiken rückläufig sind, steigen die psychosozialen Risiken an.
Entwicklungen in der Arbeitswelt und bei den Arbeitsbedingungen
Verschiedene Entwicklungen in der Arbeitswelt kommen als Ursachen für die Zunahme stressbedingter Belastungen und Erkrankungen in Frage [1] . Dazu gehören etwa zunehmende Flexibilitätsanforderungen, eine wachsende Arbeitsintensität, eine allgemeine Beschleunigung, eine Entgrenzung zwischen Privat- und Arbeitsleben, sowie höhere Arbeitspensen von Eltern mit Kindern [2].
Diese grösseren Entwicklungen bilden sich ab in sehr konkreten Arbeitsbedingungen. Die nachfolgende Darstellung basiert auf einer Vielzahl an Studien zum Einfluss der Arbeitsbedingungen auf den Stress und die Erschöpfung von Arbeitnehmenden. Die Auswirkungen bestimmter Bedingungen sind dabei stärker, wenn sich verschiedene problematische Faktoren kumulieren.
- Hohe Arbeitslast, Termindruck, hohe emotionale Anforderungen: Termindruck und Arbeitslast haben in den letzten Jahren in den verschiedenen Berufen und Branchen stark zugenommen. Ursache dafür sind etwa ein intensivierter Wettbewerb, technologische Entwicklungen oder auch der Arbeitskräftemangel. Zudem zeigt sich in verschiedenen Berufen mit hohen emotionalen Anforderungen, wie etwa dem Gesundheitswesen, ein hohes Wachstum an Arbeitsplätzen, wodurch ihre Bedeutung wächst.
- Gestaltungsspielräume, Planbarkeit, Mitwirkung: Zeitliche oder inhaltliche Gestaltungsspielräume ermöglichen es Arbeitnehmenden, Belastungen zu reduzieren. Vor allem in Branchen mit geringen zeitlichen Gestaltungsspielräumen zeigt sich dementsprechend häufig eine deutlich höhere Belastung. Eine höhere Planbarkeit – das Gegenteil etwa von kurzfristigen Arbeitseinsätzen oder kurzfristigen Überstunden – reduziert zudem die Konflikte beispielsweise mit familiären Anforderungen («Konfliktzeiten»). Die Mitwirkung von Arbeitnehmenden bei der Arbeitsgestaltung ist somit ein entscheidender Faktor. Die zeitlichen Gestaltungsspielräume haben in den letzten Jahren insgesamt zugenommen und ermöglichen in verschiedenen Berufen einen besseren Umgang mit Belastungen.
- Fehlende Grenzen der Arbeit, überlange Arbeitstage: Gestaltungsspielräume helfen allerdings wenig, wenn die Arbeitslast sehr hoch ist. Fehlende Grenzen, eine permanente Erreichbarkeit oder sehr lange und fragmentierte Arbeitstage verbreiten sich in immer mehr Berufen und Branchen. Als Folge davon verkürzt sich die effektive Ruhezeit. Stress wird weniger reduziert und die Gefahr der Erschöpfung steigt.
- Fehlende Anerkennung: Fehlende Anerkennung kann sich über verschiedene Kanäle zeigen, etwa über den Lohn, die beruflichen Perspektiven, oder die Wertschätzung, die Vorgesetzte oder die Gesellschaft einer Arbeit entgegenbringen. Gerade bei der Wertschätzung, die Vorgesetzte der Arbeit ihrer Angestellten entgegenbringen, zeigt sich aus den Daten des schweizerischen Gesundheitsobservatoriums eine stetige leichte Verschlechterung in den letzten zehn Jahren.
- Entfremdung und Wertekonflikte: In verschiedenen Berufen zeigt sich teilweise eine zunehmende Entfremdung von der Arbeit. Dies, weil die intrinsische Arbeitsmotivation sehr hoch ist, die effektive Arbeitstätigkeit aber nicht mehr dem entspricht, was Arbeitnehmende motiviert und dem sie einen Sinn zusprechen. Dies zeigt sich typischerweise etwa in der Pflege oder bei Lehrpersonen, sofern sie mit hohen Aufwänden für die Datenerhebung oder mit hohen bürokratischen Aufwänden konfrontiert sind, welche die Zeit mit Patient:innen oder Schüler:innen stark reduzieren.
- Konflikte, Unsicherheit, Führungsprobleme: Während die Arbeitsplatzsicherheit in den letzten Jahren insgesamt deutlich zugenommen hat, gibt es Hinweise darauf, dass Konflikte am Arbeitsplatz etwa bei den Absenzen eine Rolle spielen könnten. [3] Allerdings zeigt sich aus den Daten der schweizerischen Gesundheitsobservatoriums keine allgemeine Zunahme von Einschüchterungen, Mobbing oder verbaler Gewalt in den letzten zehn Jahren. Zudem sind Konflikte in der Regel eine Folge und nicht eine Ursache von Problemen. Trotzdem bleiben die Faktoren Führung, Sicherheit und Konflikte mitentscheidend.
Die genannten sechs Bereiche sind eingebettet in familiäre oder private Beziehungen und Einflussfaktoren, die auf die beruflichen Belastungs- und Entlastungsfaktoren zurückwirken. So erschweren beispielsweise überlange Arbeitstage im Betrieb oder kurzfristige Änderungen der Dienstpläne die Vereinbarkeit der Erwerbstätigkeit mit einem Familienleben stark. Die Vereinbarkeit wird aber bei wachsenden Arbeitspensen der Eltern immer wichtiger. Dies, weil private und berufliche Beziehungen deutlich stärker miteinander koordiniert werden müssen als noch vor 20 Jahren. Dies zeigt, dass sich Arbeitsbelastungen und private Belastungen nicht mehr so einfach voneinander trennen lassen. Vielmehr wirken beide aufeinander ein. Dies führt dazu, dass gesundheitliche Probleme zunehmend multifaktoriell werden und nicht mehr auf eine einzelne Ursache zurückgeführt werden können.
Ist der institutionelle Rahmen noch der richtige?
Als Folge der Zunahme multifaktorieller Gesundheitsprobleme ist der heutige institutionelle Rahmen mit den vier zentralen Aufgaben Vorbeugung (Prävention), Behandlung (Kuration), Wiedereingliederung (Rehabilitation) und Lohnfortzahlung zunehmend überfordert und kann seinen Auftrag nur noch teilweise erfüllen.
Zu den beteiligten Institutionen gehören dabei die Suva, die Krankentaggeldversicherungen, die Arbeitsinspektorate/Seco, die Krankenversicherungen und die Invalidenversicherungen. Sie müssten diese vier Aufgaben eigentlich koordiniert wahrnehmen und abdecken.
- Suva: Sie ist zuständig für Unfälle und Berufskrankheiten. Insbesondere die Unfälle bei der Arbeit sind allerdings stetig rückläufig. Gleichzeitig werden psychische Belastungen oder Erkrankungen nicht als Berufskrankheiten anerkannt, weil sie häufig multifaktoriell sind und dadurch nur teilweise auf berufliche Belastungen zurückgeführt werden können. Die Suva hat eine sehr lange Erfahrung in der Prävention vor Unfällen und Berufskrankheiten und hat ein hohes Interesse daran. Dies auch, weil sie alle vier Bereiche abdecken muss. Sie ist dabei insgesamt sehr erfolgreich. Nur leider steigen die Gesundheitsrisiken nicht dort, wo die Suva aufgrund des Unfallgesetzes zuständig ist.
- Krankentaggeldversicherungen: Sie sind zuständig für eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, sofern Arbeitgeber freiwillig eine entsprechende Versicherung abgeschlossen haben. Die Schweiz kennt bis heute kein Obligatorium. Die zunehmenden Krankheitsfälle führen dazu, dass die Kosten für die Versicherungsdeckung steigen. Betriebe müssen diese zusätzlichen Kosten entweder bezahlen oder sie können oder müssen auf eine Versicherungsabdeckung verzichten. Die Krankentaggeldversicherungen leisten zudem zwar Lohnfortzahlungen, die Behandlungskosten tragen hingegen die Krankenkassen. Insgesamt haben die Krankentaggeldversicherungen deshalb kaum Anreize für Präventionsmassnahmen. Mit den wachsenden Kosten haben sie vor allem den Druck auf Arbeitnehmende und andere Versicherungen erhöht.
- Arbeitsinspektorate/Seco: Die kantonalen Arbeitsinspektorate sind zuständig für den Vollzug des Arbeitsgesetzes, also etwa für die Einhaltung der Arbeits- und Ruhezeiten. Die Oberaufsicht liegt beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Die Arbeit der Arbeitsinspektorate würde präventiv wirken. Leider sind die Kontrollen in den Betrieben aber relativ selten und die Sanktionen gegen fehlbare Arbeitgeber bescheiden. Zudem fehlen weiterhin klare Vorgaben, welche gegen neue Gesundheitsrisiken effektiv präventiv wirken würden (siehe unten).
- Krankenversicherungen: Die Krankenversicherungen decken die Kosten für die Krankheitsbehandlung ab. Ihr Interesse an präventiven Massnahmen ist beschränkt. Dies auch, weil sie nur einen Teil der vier genannten Aufgaben übernehmen müssen.
- Invalidenversicherung: Die Invalidenversicherung trägt ebenfalls einen wesentlichen Teil der wachsenden Kosten aufgrund von psychischen Erkrankungen. Auch bei ihr steigt der finanzielle Druck. Die IV deckt insbesondere schwere Fälle ab. Sie hat keinen gesetzlichen Präventionsauftrag, ist aber für die berufliche Wiedereingliederung zuständig, was in einem sehr kompetitiven Arbeitsmarkt ein schwieriges Unterfangen darstellt.
Die vielen Akteure verdeutlichen die Verzettelung des heutigen Systems, das in dieser Form nicht auf die neuen und grösser werdenden Herausforderungen kaum vorbereitet ist.
Handlungsoptionen – institutioneller Rahmen
Wie könnten die Institutionen also an die heutigen Erfordernisse angepasst werden? Grundsätzlich bestehen unterschiedliche Möglichkeiten:
- Neue Berufskrankheiten: Eine Anpassung wäre möglich über die Aufnahme von psychischen/stressbedingten Erkrankungen in den Katalog der Berufskrankheiten, für welche im heutigen System die Suva zuständig ist, möglich. In Berufen, die ein erhöhtes Risiko beispielsweise für Stresserkrankungen aufweisen – etwa Pflegeberufe oder Berufe im Gastgewerbe – würde die Suva dadurch die vier Aufgaben komplett übernehmen. Damit würde zumindest ein Teil der wachsenden psychischen Risiken besser abgedeckt. Gleichzeitig müssten psychosoziale Risiken und Präventionsmassnahmen so konkretisiert werden, dass sie für alle Arbeitgebenden nachvollziehbar wären und präventiv wirken könnten.
- Obligatorische Krankentaggeldversicherung: Mit einem Obligatorium bei der Krankentaggeldversicherung und mit einer neuen öffentlichen Krankentaggeldversicherung könnten grundsätzlich alle Betriebe und Arbeitnehmenden der Versicherungsdeckung unterstellt werden. [4] Gleichzeitig würden dieser «neuen Suva» alle vier genannten Aufgaben im Bereich Krankheit erteilt. Dadurch bestünde sowohl ein Anreiz wie auch eine gesetzliche Verpflichtung Prävention, Kuration, Rehabilitation und Lohnfortzahlung bei Krankheit unter einem Dach zu vereinen.
Damit bestünden mindestens zwei Handlungsoptionen für eine Modernisierung der Versicherungsabdeckung von Arbeitnehmenden gegen neue gesundheitliche Risiken, die der zunehmenden Komplexität der Erkrankungen Rechnung tragen würde.
Aus Arbeitnehmendensicht ist es hingegen keine Option, die aktuellen Entwicklungen, insbesondere die Zunahme psychischer Erkrankungen, zu ignorieren.
Es braucht einen schnelleren Lernprozess bei psychosozialen Risiken
Das wichtigste Ziel ist und bleibt es aber, dass Erkrankungen bei der Arbeit verhindert werden können. Hier braucht es einen schnelleren Lernprozess, der klarere gesetzliche Vorgaben zur Verhinderung von Krankheiten ermöglicht. Solche Lernprozesse haben in den letzten Jahrzehnten bei den körperlichen Erkrankungen zu grossen Fortschritten geführt. Bei den psychischen Gesundheitsrisiken hinkt die Gesetzgebung den aktuellen Entwicklungen allerdings stark hinterher. Dies zeigt folgendes Beispiel: Artikel 18 der Verordnung 3 des Arbeitsgesetzes formuliert die Anforderungen an die Luftreinhaltung wie folgt: «Luft, die durch Gerüche, Gase, Dämpfe, Nebel, Rauch, Staub, Späne und dergleichen in einer die Gesundheit beeinträchtigenden Weise verunreinigt wird, ist so nahe wie möglich an der Stelle, wo sie verunreinigt wird, wirksam abzusaugen. Nötigenfalls ist die Verunreinigungsquelle räumlich abzutrennen.» Aus dem Artikel wird völlig klar, was die Arbeitgebenden konkret tun müssen, um die Gesundheit der Arbeitnehmenden zu schützen – nämlich absaugen oder abtrennen. In Artikel 2 der Verordnung 3 des Arbeitsgesetzes ist auch festgehalten, dass Arbeitgebende die psychische Gesundheit von Arbeitnehmenden schützen müssen: «Der Arbeitgeber muss alle Anordnungen erteilen und alle Massnahmen treffen, die nötig sind, um den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit zu wahren und zu verbessern. Insbesondere muss er dafür sorgen, dass (…) c. eine übermässig starke oder allzu einseitige Beanspruchung vermieden wird.»
Wird dadurch den Arbeitgebenden klar, was sie zum Schutz vor psychosozialen Risiken konkret tun müssen? Ich befürchte nicht. Aus dem oben dargestellten Modell kann aber durchaus konkreter abgeleitet werden, welche Massnahmen nötig sind, damit Arbeitnehmende weniger erkranken. Absaugen und Abtrennen bleiben dabei wichtig, sie müssen aber ergänzt werden etwa durch Mitgestalten und Abschalten.