Krankentaggeld – ein Blick in die Schweizer Geschichte
Bereits vor 125 Jahren wurde der erste Anlauf genommen, um den Erwerbsausfall bei Krankheit abzusichern. Bis heute gibt es jedoch keine allgemeine Absicherung für den Erwerbsausfall bei Krankheit. Ein Blick in die Geschichte zeigt, welche Versuche bisher unternommen wurden.
Im 19. Jahrhundert wurde zunächst in einzelnen Kantonen der Schutz der Arbeitnehmenden gestärkt. 1877 wurden dann mit dem Fabrikgesetz auch auf nationaler Ebene klare Linien definiert, welche die Kinderarbeit durch Arbeitsverbote einschränkten und den Mutterschutz in den ersten Wochen nach der Geburt garantierten. Zunächst wurde die Idee verfolgt, dass Erwerbsausfälle bei Unfall oder Berufskrankheiten durch die Haftpflicht der Arbeitgebenden gedeckt werden sollten. Es zeigte sich allerdings rasch, dass die Haftpflichtklagen für Arbeitnehmende mit tiefen Einkommen nicht zugänglich waren und die Klagen gleichzeitig eine existenzielle Bedrohung für Unternehmen darstellen konnten. Vor diesem Hintergrund stimmten die Stimmberechtigten 1890 dem Grundsatz in der Bundesverfassung zu, dass der Bund eine Unfall- und eine Krankenversicherung einführen kann.
Das Parlament arbeitete anschliessend die sogenannte Lex Forrer aus, die unter anderem einen Erwerbsersatz bei Krankheit vorgesehen hätte. Diese Vorlage wurde allerdings 1900 von der Stimmbevölkerung abgelehnt. Teile davon konnten in separaten Vorlagen erfolgreich neu vorgelegt werden, so entstanden auf dieser Grundlage etwa die Unfallversicherung und die Militärversicherung. Der Erwerbsersatz bei Krankheit wurde jedoch nicht weiterverfolgt.
Krankentaggeldversicherung im 20. Jahrhundert
Die Frage der Versicherung im Krankheitsfall blieb jedoch auch im 20. Jahrhundert ein wichtiges politisches Thema. Ab den 1950er-Jahren gab es verschiedene Versuche, eine analoge Regelung zur Unfalldeckung zu erlangen. Das bedeutet, dass die Kosten für Krankheit und Verdienstausfall wie in der Unfallversicherung gedeckt sein sollten.
Die verschiedenen Revisionen des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes in den 50er, 60er und 80er-Jahren scheiterten. 1970 versuchte die SP, das Thema mit einer Volksinitiative für eine soziale Krankenversicherung erneut auf die politische Agenda zu setzen. Sie verlangte eine obligatorische Krankenpflegeversicherung und einen Erwerbsersatz von 80% im Krankheitsfall. Der Bundesrat stellte der Initiative einen Gegenvorschlag gegenüber, der unter anderem die Einführung einer obligatorischen Krankentaggeldversicherung vorsah, die paritätisch von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden finanziert werden sollte. Sowohl die Volksinitiative als auch der Gegenvorschlag wurden jedoch am 8. Dezember 1974 abgelehnt.
Erst 1991 gelang es, die Pflege im Krankheitsfall obligatorisch zu versichern. Allerdings wurde dabei die Frage des Krankentaggelds ausgeklammert. Nachdem 1998 die Volksinitiative für ein sicheres Einkommen bei Krankheit in der Sammelphase gescheitert war, reichte der CNG, die Vorläuferorganisation von Travail.Suisse eine Petition mit 17'000 Unterschriften ein, die eine Taggeldversicherung im Krankheitsfall verlangte: Die Arbeitgeber sollten für alle Arbeitnehmenden eine Krankentaggeldversicherung abschliessen. Das Taggeld sollte 80% des versicherten Lohnes betragen und während mindestens 730 Tagen ausbezahlt werden. Die Kosten für die Taggeldversicherung sollten mindestens zur Hälfte von den Arbeitgebenden getragen werden und auch Arbeitslose sollten versichert werden. Das Anliegen der Petition wurde jedoch von Bundesrat und Parlament nicht weiter verfolgt.
Neues Jahrtausend – neue Sicherheit?
In den Nuller- und Zehnerjahren des neuen Jahrtausends wurden in den eidgenössischen Räten neun Vorstösse zum Thema Krankentaggeld eingereicht. Sie verlangten Berichte und Auskünfte über die Absicherung der Arbeitnehmenden im Krankheitsfall.
2021 wurde die Motion Romano im Nationalrat mit 95 zu 87 Stimmen angenommen. Sie verlangt die Einführung einer obligatorischen Krankentaggeldversicherung zur Deckung des krankheitsbedingten Erwerbsausfalls während mindestens 720 Tagen. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerats hat sich anschliessend mit dem Geschäft befasst und ein Postulat eingereicht, das verschiedene Fragen im Zusammenhang mit der Krankentaggeldversicherung klären soll, einerseits bezüglich der Vorteile eines Obligatoriums, eines Teilobligatoriums oder eines Kontrahierungszwangs und andererseits bezüglich der Auswirkungen dieser Modelle auf die verschiedenen Betroffenen.
Travail.Suisse ist überzeugt, dass der Postulatsbericht den Handlungsbedarf nochmals klar aufzeigen wird und hofft, dass dann die Zeit reif ist für eine bessere Absicherung im Krankheitsfall. Damit das neue Jahrtausend tatsächlich mehr Sicherheit für Arbeitnehmende bringt, die wegen Krankheit nicht arbeiten können.
Weiterführende Literatur:
Bernhard Degen, Entstehung und Entwicklung des Schweizerischen Sozialstaates; in: Studien und Quellen 2005, Bd. 31, S. 17-48.