Ein kürzlich veröffentlichter Bericht des Bundesrats befasst sich mit dem neuen Pflegemodell, das es Angehörigen ermöglicht, von einer anerkannten Spitex-Organisation angestellt und für die Pflege ihrer pflegebedürftigen Angehörigen bezahlt zu werden. Der Beitrag der betreuenden Angehörigen in der Schweiz ist beträchtlich und unverzichtbar. Anlässlich des Nationalen Tags der betreuenden Angehörigen am 30. Oktober hat Travail.Suisse daran erinnert, dass die Anstellung einer betreuenden angehörigen Person unter das Arbeitsrecht fällt und gute Arbeitsbedingungen unerlässlich sind. Es braucht eine nationale Strategie für die Angehörigenbetreuung, um alle Lücken zu schliessen, die der Bericht des Bundesrats aufgezeigt hat.
In unserem Land hilft man gerne einem Familienmitglied, einem Nachbarn, dem man verbunden ist, oder einer lieben Freundin. Von regelmässiger informeller Hilfe aus gesundheitlichen Gründen (einmal pro Woche oder öfter) profitierten im Jahr 2022 17 Prozent der Schweizer Bevölkerung, also 1,5 Millionen Menschen [1]. Mit 35 Prozent profitieren Personen über 85 Jahren am meisten davon.
Diese informelle Hilfe wird von Menschen jeden Alters geleistet. Junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren, sowie Menschen zwischen 45 und 64 Jahren leisten am meisten Hilfe [2]. Insgesamt unterstützen 35 Prozent der Männer und fast 40 Prozent der Frauen in der Schweiz Angehörige mit gesundheitlichen Problemen – das sind mehr als 3 Millionen Menschen. Diese beeindruckenden Zahlen stammen aus der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2022. Trotzdem spielt der Bundesrat das Phänomen herunter, indem er in seinem am 15. Oktober veröffentlichten Bericht die Zahl von 300'000 pflegenden Angehörigen angibt, eine aus dem Jahr 2016 stammende Zahl. Zweifellos fehlt in der Schweiz auch eine klare Definition dessen, was pflegende oder betreuende Angehörige überhaupt sind.
Die Verbundenheit zwischen Menschen steht im Mittelpunkt des freiwilligen Engagements von Angehörigen, und nicht nur familiäre Bindungen und Verpflichtungen (und die Pflicht zur Unterstützung). Die grosse Neuerung besteht darin, dass ein kleiner Teil der Pflegeaufgaben, die seit Jahrzehnten ehrenamtlich geleistet wurden, nun vergütet werden kann. Es handelt sich dabei um die sogenannte «Grundpflege», d.h. um eine nicht abschliessende Liste pflegerische Leistungen nicht medizinischer Art, die in der Krankenpflege-Leistungsverordnung aufgeführt sind. Dazu gehören beispielsweise Hilfe beim Anziehen, Essen und Waschen, das Bettenmachen oder das Durchführen von Übungen mit der pflegebedürftigen Person. Auch die Unterstützung psychisch kranker Menschen gehört zur Grundpflege. Damit die Kosten von den Spitex-Organisationen erstattet und an die Angehörigen ausgezahlt werden können, muss der Bedarf an solchen Pflegeleistungen zwingend von einer Pflegefachperson beurteilt werden. Alles, was in den Bereich der Assistenzarbeit fällt, wird hingegen nicht erstattet.
Der Bund muss eingreifen
Diese Möglichkeit, Angehörige zu entschädigen, wenn sie von einer Spitex-Organisation angestellt sind, wurde 2019 durch einen Entscheid des Bundesgerichts bestätigt. Seitdem können Organisationen mit einer Betriebsbewilligung eines Kantons den Krankenkassen die Grundpflegeleistungen in Rechnung stellen, die von Personen ohne spezielle Ausbildung, d.h. von Angehörigen einer pflegebedürftigen Person, erbracht werden. Damit wurde der Weg frei für die Entwicklung einer neuen Geschäftstätigkeit. Die Zahl der von den Krankenkassen übernommenen Stunden ist dadurch in sehr kurzer Zeit explosionsartig gestiegen: Laut dem letzten Bericht des Bundesrats hat sie sich zwischen 2022 und 2024 mehr als versechsfacht. Und der Trend ist weiterhin steigend, da eine von sechs Organisationen, die an der Umfrage teilgenommen haben, angegeben hat, in den nächsten zwei Jahren neue pflegende Angehörige einstellen zu wollen [3].
Angesichts der damit verbundenen immensen Kostensteigerung wurden rund zwanzig Vorstösse im Parlament eingereicht worden, auf die der Bericht des Bundesrats eingeht. Sollte man deshalb «das Kind mit dem Bade ausschütten»? Der Bundesrat ist der Ansicht, dass eine Anpassung des Gesetzes nicht sinnvoll ist, da die beteiligten Akteure – hauptsächlich die Kantone, die Arbeitgeberorganisationen und die Versicherer – bereits über die notwendigen Instrumente verfügen, um die Situation unter Kontrolle zu bringen und die Qualität der Pflege sowie den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit des Gesetzes zu gewährleisten.
Travail.Suisse erachtet ein Eingreifen des Bundes hingegen als zwingend notwendig, um die diversen im Bericht identifizierten gesetzlichen Lücken zu schliessen. Ein Beispiel: Das Gesetz verpflichtet die Spitex-Organisationen nicht dazu, die von pflegenden Angehörigen erbrachten Leistungen separat zu erfassen. Doch gerade diese Daten sind für die Kantone notwendig, um ihre Gesundheitspolitik entsprechend anzupassen. Ein weiteres Beispiel: Auf Bundesebene gibt es keine spezifischen Zulassungskriterien für pflegende Angehörige, die die Kantone bei der Zulassung neuer Spitex-Organisationen berücksichtigen können. Jeder Kanton legt seine eigenen Kriterien fest und schliesst manchmal Personen aufgrund ihres Alters aus, obwohl viele pflegende Angehörige erst nach Erreichen des Rentenalters Pflege leisten. Dies ist für Travail.Suisse eine inakzeptable Diskriminierung aufgrund des Alters.
Die Kontrolle der Arbeitsbedingungen ist unerlässlich
Für Travail.Suisse ist es notwendig, die Arbeitsbedingungen der pflegenden Angehörigen genau zu prüfen. Pflegende Angehörige sind in ihrer eigenen Wohnung oder in der Wohnung der Person tätig, die sie regelmässig pflegen. Sie haben keine Kolleginnen und Kollegen, mit denen sie sich täglich austauschen können, und keine vorgesetzte Person, die bei Problemen zur Verfügung steht. Es ist jedoch immer Aufgabe des Arbeitgebers, alle notwendigen Massnahmen zum Schutz der körperlichen und psychischen Gesundheit seiner Arbeitnehmenden zu ergreifen.
Pflegende Angehörige bewegen sich in einem Umfeld, das emotional belastend sein kann. Neben der Gesundheit stehen auch die Intimität und die Beziehung auf dem Spiel, mit allem, was dies an Scham, Unausgesprochenem oder Tabus mit sich bringt. Reichen ein Anruf alle zwei Wochen oder ein Besuch vor Ort einmal im Monat – wie es die Administrativverträge zwischen Arbeitgebern und Versicherern [4] vorschreiben – aus, um beispielsweise Fälle von Misshandlung oder Gewalt zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen aufzudecken?
Wie der Bundesrat richtig feststellt, ist der Beitritt der Spitex-Organisationen zu den Administrativverträgen freiwillig. In diesem Punkt ist sogar eine negative Tendenz zu beobachten: «Neu gegründete Organisationen [verzichten] in letzter Zeit vermehrt auf einen Beitritt zu den Administrativverträgen», heisst es im Bericht. Darüber hinaus gibt es einige Kantone, welche die zugelassenen Spitex-Organisationen streng überwachen, während andere darauf verzichten. Dies ist sowohl im Hinblick auf die Qualität der Pflege als auch im Hinblick auf die einzuhaltenden Arbeitsbedingungen nicht akzeptabel. Die Einstellung von Angehörigen bringt die Verantwortung eines Arbeitgebers mit sich, der für die Gesundheit seiner Beschäftigten haftet.
Es braucht eine nationale Strategie für die Angehörigenbetreuung
Travail.Suisse teilt die erste Forderung der Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung IGAB, zu deren Gründungsmitglieder der Dachverband gehört: Es braucht eine nationale Strategie für die Angehörigenbetreuung, die gemeinsam mit allen Beteiligten, einschliesslich der Vertreterinnen und Vertreter der Betroffenen, ausgearbeitet werden muss.
[1] Gemäss der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2022
[2] Fast 45 Prozent der 15- bis 24-Jährigen, 41 Prozent der 45- bis 54-Jährigen und 42 Prozent der 55- bis 64-Jährigen leisten regelmässig ein- oder mehrmals pro Woche informelle Hilfe. Website des BFS (abgerufen am 29.10.2025).
[3] Insgesamt wurden 1’124 Organisationen befragt, wobei die Rücklaufquote nur 41,3 % (465). Eine Verallgemeinerung der Ergebnisse ist deshalb schwierig.
[4] Die Administrativverträge regeln die Häufigkeit der Betreuung von Angehörigen durch Gesundheitsfachpersonen, die Ausbildung von Angehörigen und deren Dauer sowie Standards für die Begleitung von pflegenden Angehörigen.
Webseite Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung (IGAB): www.cipa-igab.ch